Die Debatten im Bundestag zeigen das meist unversöhnliche Nebeneinander von Positionen. Die Mehrheiten sind klar, das Abstimmungsergebnis damit auch. Eine gemeinsame Lösungssuche findet nicht statt. Der Grund: Unsere Demokratie krankt an einem autoritären Machtverständnis und den damit verbundenen Strukturen. Eine ehrliche Reflexion und ein Diskurs darüber könnte die Demokratie beleben, ein großes Gestaltungspotential erschließen und mehr Lebendigkeit und Freude in die Politik bringen.
Dieser Artikel von Dominik Fette erschien etwas gekürzt in Heft 3/19 der Zeitschrift “Empathische Zeit“.
Für viele Menschen ist Politik ein negativ besetztes Kampffeld. Auch wer sich mit hohen Idealen für das Gemeinwohl einsetzen will, passe sich in dieser Arena schneller den Strukturen an, als dass er oder sie die Strukturen verändern könne. Tatsächlich sind wir alle in diese Machtstrukturen hineingeboren und wurden durch Erziehung, Schule usw. geprägt. Erst recht findet dann eine solche Prägung im „Politik-Apparat“ statt, also in den Strukturen von Parteien und Parlamenten. Dort geht es dann um Positionen, den Streit um die „richtigen“ Ziele und Wege sowie die mediale Öffentlichkeit, in der sich Politiker*innen als kompetent präsentieren müssen. Und sicher oft auch um ein “Hochdienen“.
Der Rückzug ins Apolitische ist gefährlich. Die Krisen unserer Zeit lassen sich ohne die Politik nicht lösen. Wer aber meint, gegen „die da oben“ kämpfen“, eine Gegenmacht aufbauen zu müssen, folgt derselben Logik. Damit will ich strukturelle Machtungleichgewichte nicht beschönigen – im Gegenteil. Aber ob top-down oder bottom-up: Was fehlt, ist eine ehrliche und offene Reflexion über unser Verständnis von Macht. Das Thema wird zu oft tabuisiert – von den Mächtigen genauso wie von denen, die gegen die Herrschenden kämpfen oder sich von Politik abwenden.
Demokratie als Gewaltherrschaft mit Wahlen?
Wir leben in einer Demokratie mit einem Grundgesetz, das die Gleichheit aller Menschen und die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Norm setzt. Gleichzeitig hat sich das vorherrschende Machtverständnis seit dem Absolutismus nicht verändert: Macht wird gemeinhin als Potential verstanden, die eigenen Interessen und Positionen auch gegen den Widerstand anderer durchsetzen zu können (nach Max Weber). Natürlich hat sich seit dem Absolutismus verändert, wer auf welchem Wege und für wie lange welche Macht erlangt. Es wird aber vorausgesetzt, dass es strukturelle Hierarchien gibt, Menschen mit mehr Macht, die anderen etwas vorschreiben können und sie damit in ihrer Freiheit beschneiden.
So gesehen verstehen wir das Regierungssystem – oder sogar die Politik allgemein – als Herrschaftsform mit legitimer Gewaltanwendung. Hannah Arendt bezeichnete diese Form der Macht als Gewalt, die sich schnell vom Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck entwickelt. Es geht dabei nicht in erster Linie um die ultimative Staatsgewalt durch Polizei und Justiz. Was in der Praxis viel mehr im Widerspruch zu den Werten der Demokratie steht, sind die subtilen, strukturellen und unbewussten Formen von Gewalt:
Beispiel 1: Hierarchien unter „Gleichen“. In vielen politischen Gremien begegnen sich die Menschen formal „unter Gleichen“. In der Praxis wird dies auf vielfältige Weise durchbrochen: Redegewandtere Personen setzen sich mit ihren Positionen durch, weil es keine Kultur des Zuhörens gibt, bei der sich alle gleichermaßen einbringen können. Das Mehrheitsprinzip führt dazu, dass Koalitionen geschmiedet und taktiert wird, wodurch Minderheiten unterdrückt werden. Ämter und Funktionsstellen werden dazu genutzt, über den Zugriff auf Ressourcen (Finanzen, Zugang zu Öffentlichkeit u.a.) die eigene Position zu stärken oder die Ressourcen als Verhandlungsmasse zu gebrauchen. Dies gilt oft sogar als legitim, da die Person ja mit diesem Verständnis von Macht in dieses Amt gewählt wurde. Die Reaktion der Personen, die nicht berücksichtigt werden, ist oft, eine Gegenmacht aufzubauen. In einem solchen Machtkampf geht ganz viel Energie unproduktiv verloren.
Beispiel 2: Ansprüche und Absolutheitsansprüche. Von Parteien und Politiker*innen wird erwartet, klare und realistische Zukunftspläne zu haben. Also werden bis ins Detail Konzepte vorgelegt und diese als die absolut richtige Lösung dargestellt. Was medial kompetent wirken soll, entpuppt sich dann zu oft als Abkopplung von Dialog- und Lernbereitschaft. „Volksnähe“ wird zwar groß geschrieben, aber in der Praxis überwiegt wohl häufig die Angst, dass bei ernstgemeinter Einbeziehung aller Betroffenen etwas ganz anderes herauskommen könnte – und dies die eigene Kompetenz in Frage stellen würde.
Macht als gemeinsames Gestaltungspotential…
Wenn wir Demokratie ernst meinen und uns die Werte Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Pluralität am Herzen liegen, dann brauchen wir ein anderes Politik- und Machtverständnis. Wenn wir Politik wie Hannah Arendt als gemeinsames Handeln verstehen und die Vielfalt der Menschen ernst nehmen, dann setzt dieses Handeln die Entscheidung voraus, sich auf etwas Gemeinsames, Neues, Unbestimmtes einzulassen. Macht ist dann das kollektive Potential, unter Einbeziehung möglichst vieler Perspektiven die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Dabei erfordern es heute die globalen Krisen, die Perspektiven und Potentiale sowohl der ganzen Menschheit inklusive zukünftiger Generationen als auch der Natur mit einzubeziehen.
Der abendländische Individualismus stößt an seine Grenzen, indem er die Einzelinteressen betont und mit dem alten Macht-über-andere-Verständnis andere Menschen zu Objekten degradiert. In letzter Zeit gibt es immer mehr Ansätze, die die Eingebundenheit des Menschen in eine Gemeinschaft oder ein noch größeres Ganzes hervorheben. Auch viele Methoden und Strukturen für ein kollektives Macht-um-zu-Verständnis mit einem ganzheitlichen Menschenbild wurden entwickelt und werden laufend erprobt und weiterentwickelt. Dazu gehören z.B. Soziokratie, Systemisches Konsensieren, Theorie U, Deep Democracy und Reinventing Organizations.
… das eine andere Haltung erfordert
Alle Theorie und alle Methoden machen aber noch keinen großen Unterschied, wenn sie nur kognitiv verstanden bzw. einfach nur angewandt werden. Erst wenn ich das neue Machtverständnis auch lebe, wenn meine innere Haltung auch innerhalb der alten Strukturen von Respekt und einem Miteinander getragen ist, kann ich einen Wandel auch im Außen anstoßen. Und das ist gar nicht so einfach. Es setzt voraus, dass ich Pluralität als Bereicherung verstehe und daher ganz offen bin gegenüber anderen Perspektiven und Positionen; dass ich zuhören kann, ohne gleich in vorgefertigte Kategorien einzusortieren; dass ich bestrebt bin, anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und niemanden zu instrumentalisieren, und dass ich mir bewusst bin, dass dieses häufig nicht gelingt – nicht nur wegen struktureller Hierarchien; ich muss Absolutheitsansprüche aufgeben und Widersprüche auszuhalten. Auch gilt es, die Unsicherheit anzunehmen, dass ich für vieles (noch) keine Lösung habe. Aus diesem Nicht-Wissen heraus kann in einem kollektiven Prozess ein Lösungsweg erarbeitet werden. Statt die Unsicherheit auszublenden, können wir einen bewussten und kreativen Umgang mit ihr finden.
Von niemanden kann erwartet werden, solche Qualitäten und Fähigkeiten bereits umfassend zu haben. Wichtig ist daher als erster Schritt die Selbstreflexion: Was prägt mein Handeln im derzeitigen System? Was hindert mich daran, eine andere Haltung zu entwickeln? Was würde mir helfen, ein neues Machtverständnis zu leben?
Dies geht nur mit anderen gemeinsam in einem geschützten Raum. So wie es gesellschaftliche Nischen gibt, in denen ein anderes Miteinander ermöglicht und erprobt werden kann, braucht auch die Politik im engeren Sinne diese geschützten Räume mit Laborcharakter. Dann bietet die Öffnung gegenüber anderen das Potential für inneres Wachstum. Die Gewaltfreie Kommunikation kann hierbei sehr hilfreich sein: Sowohl für die Selbsterforschung (was sind meine Glaubenssätze, Triggerpunkte, tieferen Bedürfnisse?), als auch für Transformation und die Entwicklung einer anderen Haltung (urteilsfreie Begegnung, empathisches Zuhören).
Damit der geschützte Raum mehr und mehr ein öffentlicher Raum werden kann, braucht es noch mehr. Denn auch das kollektive Verständnis von Macht, das, was wir alle von „der Politik“ erwarten, prägt den Rahmen, in dem Politiker*innen agieren. Daher halte ich eine gesellschaftliche Reflexion über das Verständnis von Macht für erforderlich.
Mehr Fragen als Antworten
Zunächst gibt es für die Reflexion viele Fragen, die nicht nur die Politik, sondern uns alle betreffen. Die Antworten können auch nur vorläufig bleiben, abhängig von den Menschen, der Zeit, den gesellschaftlichen Verhältnissen. Feststehende Antworten würden den Selbstreflexionsprozess beenden.
Was ist mein ganz persönlicher Führungsstil in der Position, in der ich gerade bin – und sei es „nur“ meine Selbstführung? Wie offen bin ich für Neues, das auch mein Selbstbild in Frage stellen könnte? Wie das Verhältnis von Selbstdarstellung und Zuhören? Von Hierarchien und menschlichen Beziehungen auf Augenhöhe? Kann ich souverän mit Unsicherheit umgehen? Habe ich trotz des prinzipiellen Nichtwissens über die Zukunft das Vertrauen zu mir und anderen, dass wir auf dem richtigen Weg sind? Geht es dabei überhaupt um richtig oder falsch oder vielmehr um stimmig, integer, um die Übereinstimmung mit meinen Werten?
Wie holen wir versteckte Machtungleichgewichte und Hierarchien ins Bewusstsein? Wie gelingt es, dass die leisen Töne, das Stellen von Fragen und die Fähigkeit, wirklich zuzuhören genauso geschätzt wird wie rhetorische Brillanz?
Was heißt das im Rahmen des etablierten parlamentarischen Systems? Welche Rolle haben gewählte Vertreter*innen? Welche Rolle haben Wahlprogramme, wenn nach der Wahl in einem ganz offenen Prozess nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird? Eine vorherige Festlegung auf Lösungsstrategien kann es dann eigentlich nicht geben. Viel entscheidender werden hingegen Werte, Grundüberzeugungen und Deutungen der Verhältnisse sein. Aber lassen sich diese (medial) vermitteln?
Was für eine (kollektive) Führung erweitert die Räume für uns alle, uns frei entfalten zu können? Kann führen auch mal Anecken bedeuten, also die Grenzen von anderen bewusst überschreitend und sie aus ihrer Komfortzone lockend? Welche Sensibilität ist dafür nötig?
Gemeinsam Neues erproben und uns spielerisch entwickeln
Es bedarf ganz neuer Strukturen, Methoden und Rollenverteilungen. Vieles wird in anderen Kontexten bereits erprobt und weiterentwickelt. Ich setze darauf, dass sich auf allen Ebenen immer mehr Menschen finden, die sich für Neues öffnen. Die Anstöße in die Politik geben. Die in der Politik Neues ausprobieren. Die den Mut zu einer ehrlichen Selbstreflexion haben. Die den dafür nötigen vertrauensvollen empathischen Raum anbieten. Die sich mit einer unverkrampften, spielerischen Herangehensweise einbringen. Denn der „Ernst der Lage“ und die Freude am Gestalten müssen sich nicht ausschließen.
So kann das alte Machtverständnis langsam von einem emanzipatorisch-kollektiven Machtverständnis abgelöst werden. Erst dann gibt es die Chance zu einer wirklichen Überwindung der Krisen und für eine lebenswertere Gestaltung unserer Welt. Denn erst dann sind nicht mehr Angst, Abgrenzung und persönliche Profilierung die Triebkräfte, sondern Lernbereitschaft, Integrität und ein ehrliches Interesse am Gemeinwohl.